Es hat einige Tage des Nachdenkens gebraucht. Jetzt ist klar: Dieser Text wird geschrieben. Persönlich. Mit Emotionen. Aus der Ich-Perspektive. Er unterscheidet sich damit von den anderen Beiträgen in diesem Blog – auch wenn es letztlich, wie immer, um Kommunikation geht. Das war der schlimmste Tag meines Lebens. So überschrieb die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ ihren Beitrag über einen Doppelmord an Polizisten vor 30 Jahren. „Sie kamen, um zu helfen – und wurden erschossen. Der Mord an zwei Polizisten im Solling erschütterte vor 30 Jahren ganz Deutschland. 11.000 Polizisten kamen damals zu einem Trauermarsch nach Hannover.“
Schon diese wenigen Zeilen haben ausgereicht, um das „Kopfkino“ zu starten: Ich sitze unvermittelt wieder im „Newsroom“ des dpa-Landesbüros in Hannover. 12. Oktober 1991. Ein „stinknormaler“ Samstag, knapp zwei Jahre nach dem Fall der Mauer. Wochenenddienst. Routine. Am frühen Nachmittag ist der übliche „Rundruf“ bei den Lagenzentren der Polizei fällig. Fünf Telefonate: Vier Bezirke plus Innenministerium. Telefonhörer am Ohr, das geringelte Kabel ist leicht verheddert. Während sich die Verbindung aufbaut, geht der Blick aus dem Fenster über die Goseriede direkt zum schräg gegenüber stehenden Anzeigerhochhaus im Stadtzentrum von Hannover.
„Lagezentrum des Innenministeriums, Hansmann“, meldet sich der diensthabende Beamte (Name geändert). „Boekhoff, dpa. Gibt’s was Neues?“ Kurzes Schweigen in der Leitung, schon das ist unüblich. Dann etwas zögernd die Antwort: „Wir vermissen einen zivilen Streifenwagen.“ Schweigen. Ich stutze kurz, denke spontan an mögliches Material für eine kurze bunte Meldung. „Sie vermissen eine Zivilstreife? Hat die jemand geklaut?“ Schweigen. „Die Sache ist ernst. Wir vermissen nämlich auch die Streifenwagenbesatzung.“ Schweigen. „Ein Zivilstreifenwagen samt Besatzung ist verschwunden?“ Schweigen. „Ja, aber wir haben einen wahrscheinlichen Tatort. Ein Waldparkplatz an einer Landesstraße zwischen Boffzen und Neuhaus im Solling.“ Schweigen. „Wir haben dort eine Blutlache, Patronenhülsen und Zähne gefunden.“ Schweigen. „Blutlache und Zähne? Von wem?“ frage ich nach, jetzt voll im Reportermodus. „Das wissen wir noch nicht. Aber wir müssen annehmen, dass es von den vermissten Kollegen stammt.“ Schweigen. „Wir suchen mit Hochdruck nach den beiden.“ Schweigen. „Wie alt sind die Beamten?“ Schweigen. „30 und 34 Jahre alt. Beide verheiratet, beide zwei kleine Kinder.“
„Die sind ungefähr so alt wie ich“, durchfährt es mich. Sofort habe ich zwei verzweifelte Ehefrauen vor Augen und kleine Kinder, die nach Papa fragen. Doch der Journalist in mir „funktioniert“, nimmt weitere Informationen auf. Schreibt eine erste Meldung, sendet sie „auf den Ticker“. Im Laufe des Nachmittags wird auf einem 80 Kilometer entfernten Truppenübungsplatz der von Schüssen durchsiebte und ausgebrannte Streifenwagen gefunden. Stoff für eine weitere Meldung und eine Zusammenfassung. Am Sonntag gibt es nicht viel Neues für die Wochenendzusammenfassung. Die verscharrten Leichen der beiden Polizisten werden erste einige Tage später gefunden. Der inzwischen ermittelte Täter hatte die Polizei dorthin geführt. Wochen-, monate-, ja jahrelang wird über Tatmotiv („Hass auf Polizisten wegen Entzug der Jagd- und Waffenerlaubnis“) und Gerichtsprozess berichtet. Lebenslange Haft und Sicherungsverwahrung. Der Täter sitzt noch heute in Haft.
Der Zeitungsbericht über die Ereignisse damals hat nicht nur das persönliche Kopfkino anlaufen lassen. Mehrere Fragen- und Gedankenketten haben sich entwickelt: Was hätte die Polizei in einem solchen Fall heute wann und wie kommuniziert? Wie twittert man professionell über Polizistenmorde? Was wäre in den sozialen Medien „abgegangen“? Wahrscheinlich gäbe es widerwärtige Posts im Stil von „das geschieht ihnen Recht“. Gleichzeitig zeigt der HAZ-Bericht der Kollegin Heidi Niemann die Macht des Geschichtenerzählens: Sie lässt August-Wilhelm Winsmann zu Wort kommen. Er hat damals als Schichtleiter die Streifenwagenbestzung nach dem vermeintlichen Notruf zum Waldparkplatz geschickt. Er ist es, der am 12. Oktober 1991 „den schlimmsten Tag seines Lebens“ erlebt hat. Er kannte die beiden jungen Beamten Jörg Lorkowski und Andreas Wilkending und ihre Familien. Er hat am Jahrestag auf dem Waldparkplatz gemeinsamen mit den inzwischen durchweg pensionierten Beamten der damaligen Nachtschicht der ermordeten Kollegen gedacht.
Das habe ich auch getan, mit Gedanken wie diesen: Jörg Lorkowski und Andreas Wilkending haben diese 30 Jahre nicht erleben dürfen, haben ihre Kinder nicht aufwachsen sehen können – wie ich unsere. Kein Balkan-Krieg, der mich zutiefst erschüttert hat. Kein 96-Pokalsieg, den ich in Berlin mitgefeiert habe. Kein 11. September 2001 während der IAA in Frankurt. Kein Kanzler Schröder. Kein WM-Sommermärchen 2006 in der Rolle als Continental-Gastgeber. Kein Erdbeben mit Tsunami in Japan mitsamt Reaktor-Katastrophe in Fukushima und den zutiefst bewegenden Schilderungen der japanischen Kolleginnen und Kollegen inmitten der wochenlangen Krisenkommunikation. Kein WM-Titel für Deutschland 2014. Keine Kanzlerin Merkel. Keine Flüchtlingswelle. Keine Klimakrise. Keine Geburtstage und Familienfeiern. Keine Enkelkinder.
Die Aufzählung der Gedankenkette ist ebenso willkürlich wie unvollständig. Sie ist ein persönliches Echo auf Kommunikation: Erlebt und empfunden. Gestaltet und geprägt. Wuchtig und wirksam. Genau deshalb lautet das Motto meines LinkedIn-Profils: „Communication is my Life – Life is Communication“. Kommunikation ist mein Leben, Leben ist Kommunikation. Genau deshalb habe ich diesen Text geschrieben.